Wie aula Nicknames ein Gesicht gibt

Heute bekamen wir einen Anruf von StudentInnen, die zu eGovernment forschen und sich mit Shitstorms auf digitalen Plattformen beschäftigen. Dazu wollten sie unsere Erfahrungen mit aula wissen, denn Onlineplattformen stehen bekanntlich unter Shitstorm-Generalverdacht.
aula ist für viele SchülerInnen, eine der ersten Onlineplattformen , die sie nutzen.  Von hier tragen sie viele Verhaltensregeln in die „große Welt“. Deshalb haben wir uns mit diesem Thema bereits intensiv beschäftigt.

Was ist ein Shitstorm?
Ein massenhafter Angriff auf eine Person, in dem sie für eine Ansicht (unsachlich) kritisiert oder persönlich abgewertet wird. In unserem Verständnis ist “der Shitstorm” ein überbenutztes und unklar definiertes “Buzzword”. Oft sind vereinzelte Beleidigungen gemeint, oder, wenn es routiniert passiert, Cybermobbing.

Beleidigendes Verhalten in digitalen Medien und Cybermobbing werden durch einen wesentlichen Faktor begünstigt. Man sieht beim Tippen das Gesicht des Gegenübers nicht. Normalerweise  sehen wir nonverbale Hinweise, dass es unserem Gegenüber schlecht geht. Unsere Empathie sorgt dafür, dass es dann auch uns etwas schlechter geht. So werden wir häufig von solchem Verhalten abgebracht, das negative Gefühle in anderen Menschen auslöst. Um eine Person von Angesicht zu Angesicht zu beleidigen, muss man also eine ziemliche Hemmschwelle überwinden. Wenn ich aber allein in meinem Zimmer sitze und etwas in meine Tastatur hacke, bin ich in dieser Situation – psychologisch gesehen – allein. Dann ist es mir wichtiger, dass meine Worte witzig oder schlagfertig sind, die menschliche Reaktion des Gegenübers tritt in den Hintergrund.

Auch bei aula sind die MitschülerInnen erstmal nicht zu sehen. Sie verbergen sich hinter einer 6-Buchstaben-Kombination, die ersten 3 Buchstaben ihres Vor- und die ersten 3 Buchstaben ihres Nachnamens. „marwei“, im Fall der Autorin, ist eine recht anonyme Kennung. Aber die SchülerInnen wissen, wer sich dahinter verbirgt. Das allein hat keinen Effekt. Der besondere Effekt von aula tritt da ein, wo die betreffenden SchülerInnen sich am nächsten Tag treffen. Denn dann verbindet sich der kryptische Name plötzlich wieder mit einem lebendigen Gesicht. Die Wiederholung dieses Vorgangs baut im Gehirn die Verbindung zwischen „anonymen“ RezipientInnen und realen Personen aus. Die Hemmschwelle, die „anonymen“ EmpfängerInnen zu beleidigen, steigt.

In der Evaluation des Projekts berichten SchülerInnen und LehrerInnen, dass das erlernte Verhalten bei aula zumindest teilweise auf andere Onlineplattformen übertragen wird. Solche Lerneffekte werden in der Zukunft immer wichtiger, denn hinter Onlinekommunikation steckt eine Menge Arbeit, die unser Gehirn erbringen muss und auf die es evolutionär nicht vorbereitet ist. Wie andere Umgangsformen auch, muss der Austausch auf sozialen Medien gelernt werden und darf nicht sich selbst überlassen bleiben.

Eine zweite Methode,  mit der aula hier arbeitet, ist die Erstellung der Nutzungsregeln, die von den SchülerInnen selbst erarbeitet und durchgesetzt werden. Nachdem Regeln, Aufgaben, Vorgehen und Strafen bei Verstößen im Vertrag mit der gesamten Schulkonferenz beschlossen werden, kümmern sich SchülermoderatorInnen um deren Einhaltung. Meistens folgen sie dabei einem 6-Augen-Prinzip: wenn ein Inhalt als “problematisch” gemeldet wird, müssen drei ModeratorInnen zu dem Schluss kommen, dass er tatsächlich als “Verstoß” gegen die Nutzungsregeln gewertet werden kann.. Dann wird er gelöscht und mit der/m VerfasserIn wird persönliche Rücksprache gehalten. Bei mehrmaligem Verstoß können NutzerInnen gesperrt werden. Hier sind die SchülerInnen meist drakonischer, als wir es im Mustervertrag vorschlagen. An manchen Schulen droht eine Sperrung von 6 Monaten. In der Praxis ist das noch nicht vorgekommen.

In der Evaluation zeigt sich hinsichtlich der Einhaltung der Nutzungsregeln ein positives Bild.  Verstöße gegen die Nutzungsregeln werden zügig bearbeitet, was aber insgesamt selten vorkommt. Die Zahl der zu löschenden Inhalte ging über die Zeit, besonders nach den ersten zwei Wochen, zurück.

Darüber hinaus stellen wir weitere positive Effekte fest. Anstatt eine einschüchternde Atmosphäre zu begünstigen, wie es KollegInnen der e- Government ForscherInnen fürchteten, ermutigt aula anscheinend sogar schüchternere SchülerInnen, sich ebenfalls zu äußern. Und zwar exakt  wegen des oben beschriebenen Effekts, dass man in der Situation des Schreibens gefühlt allein ist und keine soziale Angst überwinden muss.

Ob die gelernte Verbindung zwischen unsichtbaren AdressatInnen und einem  “echten Gegenüber” mit Gefühlen auch über aula hinaus auf anderen Plattformen Bestand hat, muss Gegenstand weiterer Forschung sein. Klar ist aber, dass es didaktische Räume braucht, in denen Jugendliche Kommunikation ausprobieren und lernen können, genau wie sie diese in klassischen analogen Situationen erlernen.