Neue Gewohnheiten, veraltete Technik – Wie viel Fortschritt braucht digitale Bildung?

Wir schreiben die 4. Stunde einer aula-Pilotschule in Thüringen. 20 SchülerInnen warten (mehr oder weniger) gespannt auf meine Arbeitsanweisungen.

“Bitte einmal den Namen eurer Schule punkt aula.de in den Browser eingeben”.

Ich blicke in ratlose Gesichter.

“www. eure Schule. aula. de”

Nach mehrmaligem Wiederholen tippen ausnahmslos ALLE Workshop-TeilnehmerInnen zwischen etwa 12 und 14 Jahren die angesagte URL in die Suchleiste bei Google ein. Ich bin verwirrt. Da sitzen sie diese Digital Natives und wissen nicht, was der Unterschied zwischen einem Browser und einer Suchmaschine ist.

Irgendwann kommen sie meist auch mit dem Umweg über Google zum Ziel, allerdings ganz anders, als ich es gemacht hätte. Und hier beginnt ein Dilemma, dass dem aula-Team in den vergangenen zwei Jahren mehr als einen Aha-Moment beschert und – zugegeben – einige Nerven gekostet hat.

Der Umgang mit digitalen Medien, Soft- und Hardware ist eine neue Kulturtechnik, die man landläufig grob unter Medienkompetenz zusammenfasst. Mit dem Projekt “aula – Schule gemeinsam gestalten” möchten wir SchülerInnen Beteiligungsmöglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Schule geben und so Demokratie- und Medienkompetenz aufbauen und stärken. Das Ganze organisieren wir teilweise offline, aber maßgeblich auch online, über eine digitale Plattform.

Die praktische Nutzung der digitalen Plattform sehen wir als Gelegenheit, auch auf digitale Mediennutzung einzugehen. So ist unter anderem eine Einheit zu Passwortsicherheit Bestandteil der Einführungsstunden. “Wie denkt man sich ein sicheres Passwort aus, das man sich gut merken kann? Wie geht man mit seinem Passwort um, darf man es den Eltern geben?”

Im Verlauf der Praxisphase des Projekts hat sich allerdings gezeigt, dass die Art und Weise, wie die SchülerInnen der Pilotschulen digitale Medien nutzen, erheblich von dem abweicht, was wir als geltenden Standard betrachtet haben. Sie kennen kaum noch Browser, wissen oft nicht, wie man das “@-Zeichen” auf einer physischen Tastatur eingibt, kommunizieren nicht über Emails und nutzen keine Passwörter, sondern loggen sich mit one-touch über Apps ein. Letzteres hätte das aula-Projekt fast an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht, da unsere KontaktlehrerInnen an den Pilotschulen und wir wöchentlich gefühlte 10000 neue Passwörter neu vergeben mussten.

Dies ist unter anderem der Grund, warum wir uns für den Innovationspreis Demokratie.io beworben haben und nun endlich dabei sind eine Aula App zu entwickeln (an dieser Stelle nochmal DANKE an die Jury). Die App erlaubt ihnen das Speichern ihrer Login-Daten und das Einloggen über andere Accounts.

Die Entstehungsgeschichte dieses App-Projekts ist insofern interessant, als dass sie weitreichende Fragen aufwirft, die den gesamten Bereich der digitalen, zeitgemäßen Bildung betreffen. Bei diesen Fragen geht es um Zusammenspiel und Wechselwirkungen aus Didaktik, Pädagogik und der Entwicklung digitaler, technischer Möglichkeiten. Konkret: Wie gehen wir mit dem unterschiedlichen Grad technischer Kompetenzen um, die zwischen, aber auch innerhalb verschiedener Gruppen wie SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern,  MedienpädagoInnen, politischen BilderInnen etc. bestehen? Sollten wir jungen Menschen Techniken beibringen, die nicht ihren Nutzungsgewohnheiten entsprechen und – wie Emails und Passwörter – wahrscheinlich bald veraltet sind? Belassen wir unsere Einheit zu Passwortsicherheit in der Einführungsstunde? Oder orientieren wir uns an den Nutzungsgewohnheiten junger Menschen und neuen technischen Standards?

Um einen pädagogischen Anspruch zu entwickeln, welche Kompetenzen wir vermitteln wollen und an welchen Standards wir uns dabei orientieren, müssen wir irgendwie erkennen, was eine Kulturtechnik der Zukunft ist und was ein flüchtiges Phänomen. Nur so können wir Fähigkeiten identifizieren, die junge Menschen brauchen, um sich in der Welt zurecht zu finden.  Das ist aber gar nicht leicht.

Dazu ein kurzer Exkurs zum Team hinter aula. Wir arbeiten bei politik-digital e.V., einem Verein, der sich seit knapp 20 Jahren mit digitaler Kommunikation befasst. Bei der Entwicklung der Plattform haben wir mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Liquid Democracy e.V. gearbeitet. Involviert waren UX-DesingerInnen, die bereits schon in Jugendprojekte involviert waren, sowie natürlich nicht zu vergessen, die Projektinitatorin Marina Weisband – die ein Buch über die Neuausrichtung von Politik unter anderem mit digitalen Mitteln geschrieben hat.

Natürlich kam im Prozess der Konzeption von aula die Möglichkeit einer zusätzlichen App zur Sprache und dass wir so etwas langfristig brauchen würden, um den Gewohnheiten junger Menschen zu entsprechen. Aber ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass niemandem in dieser Runde bei Projektbeginn klar war, wie weit sich die Kulturtechniken rund um den Umgang mit digitalen Medien bereits ausdifferenziert haben. Wie wir damit umgehen, aus bildungspraktischer und -politischer Sicht, aber auch konkret im Projekt ist in vielerlei Hinsicht noch offen.

Mit der App richten wir den Fokus unserer Arbeit vermehrt auf die Praxis unserer Zielgruppe und werden auch weiterhin technische Entwicklungen verfolgen und integrieren, wenn sie uns sinnvoll erscheinen. Wahrscheinlich werden wir in Zukunft auch mit Jugendlichen darüber sprechen, was es bedeutet, dass ihre Fingerabdrücke oder Iris oder Venenmuster auf fremden Servern hinterlegt sind, um eine Identifikation zu ermöglichen.

Bei der Gestaltung digitaler Prozesse können keine steifen, einmal festgelegten Bildungs- und Prozessstandards gelten; aktuelle Gewohnheiten und Nutzungserfahrungen müssen immer in solche Konzepte einfließen. Sonst unterrichten wir am Leben vorbei. Um es mit den Worten von Ame Elliott zu sagen, die sich mit Nutzererfahrung bei Sicherheitsprozessen beschäftigt: „Große Projekte, die erfolgreich eine große Zielgruppe erreichen, sind immer so gestaltet, dass sie von Menschen auch wirklich nutzbar sind.“<!– 1522332077431 –>